Erziehung mit dem Knackfrosch
Natürlich war Pater General Hönisch vom Studienhaus der SJM auch daran interessiert, die Neugeweihten möglichst rasch als Geistliche im Haupteinsatzgebiet des Ordens, der Jugendseelsorge, zu verwenden. Dort sollen die jungen Menschen zu eifrigen und unnachgiebigen Kämpfern für die katholische Sache im Sinne der Traditionalisten ausgebildet werden. Bei den »Servi Jesu et Mariae« besteht die Jugendseelsorge vor allem in der Betreuung der Pfadfinder (Katholische Pfadfinderschaft Europas, KPE) und eines Internates.
Die Piusbruderschaft betreibt mehrere Schulen und Internate. Einige dieser Ausbildungsstätten habe ich persönlich kennengelernt. Mehrere Male besuchte ich zwischen 2000 und 2003 das streng katholische Mädchengymnasium im Bergischen Bröltal bei Schönenberg. Besonders tiefe Einblicke in die Erziehungspraktiken der traditionalistischen Katholiken erhielt ich im Mai 1999 bei einem, knapp einwöchigen Besuch des Internats und des Don-Bosco-Jungengymnasiums der Piusbruderschaft im Wasserschloss des westfälischen Örtchens Wadersloh bei Diestedde.
Ich war mit der Absicht gekommen, ein didaktisches Praktikum zu absolvieren und so eine jener Schulen näher kennenzulernen, auf die die konservativen Katholiken ihre ganze Hoffnung richteten und für deren Erhalt man hohe Summen an Spendengeldern aufbrachte, obwohl sie großenteils staatlich finanziert wurden. Ich wohnte direkt im Internat und hospitierte ausgiebig im Unterricht des privaten Gymnasiums.
Die Schüler hatten einen vollständig durchstrukturierten Tagesablauf: Nach dem Wecken um sechs Uhr morgens vor dem Frühstück eine halbe Stunde heilige Messe, dann eine Viertelstunde Morgengebet. Danach bis zum Schulbeginn Hausputz. Nach Schule und Mittagessen eine Stunde verordnete Rekreation, anschließend Studienzeiten bis 18 Uhr. Dann Gebete bis zum Zubettgehen um spätestens 21.30 Uhr, nur unterbrochen durch ein kurzes Abendessen.
Zu einem Vortrag, den ich im Internat der Don-Bosco-Schule hielt, wurden alle Schüler abgeordnet. Die Jüngeren unter ihnen, für die das gewählte Thema viel zu anspruchsvoll war, langweilten sich offenbar entsetzlich, doch sobald kleinste Störungen aufkamen, genügte ein strenger Blick oder ein Zeichen von Pater Weigl, dem damaligen Leiter der Institution, um für Ruhe zu sorgen.
Die Zeitschrift, die die Piusbruderschaft monatlich kostenlos an Kinder und Jugendliche verteilt, heißt bezeichnenderweise Der Kreuzfahrer und ruft zu einem »eucharistischen Kinderkreuzzug« auf. Mit der martialischen Wortwahl wird an einen Kinderkreuzzug im 13. Jahrhundert erinnert, bei dem Scharen von Kindern und Jugendlichen aus Deutschland und Frankreich - angeführt von einigen Klerikern - zu einem wahnwitzigen Kriegszug aufbrachen, um das Grab Jesu von den »Ungläubigen« zu befreien. Die Mission scheiterte schnell, und viele der jugendlichen Teilnehmer wurden in Kleinasien in die Sklaverei verkauft.
Disziplin und Gehorsam zählten sicher zu den erreichten Bildungszielen an diesem Gymnasium der Piusbruderschaft im Sauerland. Unterstützt wurden die diesbezüglichen Bemühungen durch das unerbittliche Postulat einer religiösen Drohbotschaft: Im Flur vor meinem Zimmer hing ein großes, auch mich beeindruckendes Bild, das das letzte Weltgericht darstellt, bei dem die bösen Menschen in die Hölle geworfen und dort sadistisch gequält werden.
Ob so allerdings das von Schwester M., Leiterin des Mädchengymnasiums der Piusbruderschaft, mir gegenüber entworfene Schulideal erreicht wird, nämlich die Kinder zu frohen, selbständigen Menschen zu erziehen, die gelernt haben, ihr Leben auf der Grundlage christlicher Überzeugung und Selbstbeherrschung zu gestalten, daran hatte ich schon damals meine Zweifel. Einen sehr frohen eigenständigen Eindruck machten die Schüler und Schülerinnen, die ich dort kennenlernte, jedenfalls nicht.
In der Seelsorge der Katholischen Pfadfinderschaft Europas, KPE, begegneten mir ähnliche Merkmale eines falsch verstandenen Gehorsams, der im Namen des »wahren katholischen Glaubens« bis zur völligen psychischen Abhängigkeit junger Menschen getrieben werden kann. Während meiner Lehrtätigkeit in St. Pölten schrieb mir ein besorgter Vater; der seine drei Töchter an diese Gruppierung »verloren« hatte, im September 2001 einen Brief. Der Mann sprach darin von einer »Gefährdung der Jugendlichen in Ihrem Wirkungskreis«. Er hatte in der Deutschen Tagespost, für die ich damals regelmäßig als freier Journalist zu theologischen und kirchenpolitischen Themen arbeitete, von der KPE erfahren: »Da die KPE unter Vorgabe eines echt katholischen Charakters präsentiert wurde, schickten wir unsere drei Mädchen nacheinander in die Katholische Pfadfinderschaft von Pater Hönisch.« Dort seien sie in ein Netzwerk verschiedenster ultrakatholischer Gruppen, wie etwa das Engel werk, geraten: »Die Zweitälteste wurde 21-jährig (...) überraschend von einer älteren Führerin der KPE zu einer gänzlich abgeschotteten Sekte um einen (...) Pfarrer im Ruhestand gefahren, brach von heute auf morgen das Studium ab und ist für Familie, Verwandte und Freunde seitdem unerreichbar.«
Erst als der Freiburger Fundamentaltheologe Professor Josef Schumacher, sonst dem traditionellen Katholizismus gegenüber sehr aufgeschlossen, im Zusammenhang mit der KPE von einem alarmierenden erzieherischen Klima der geistigen Unfreiheit und des absoluten, sektiererischen Gehorsams im Namen der Religion sprach, begann ich, den Briefschreiber wirklich ernst zu nehmen.
Das Engelwerk ist eine esoterische Vereinigung innerhalb der katholischen Kirche, die aufgrund von Visionen der 1978 verstorbenen Tirolerin Gabriele Bitterlich entstanden ist. Im Engelwerk herrscht die Überzeugung vor, dass sich die gegenwärtige Zeit durch einen großen Kampf zwischen Engeln und Dämonen auszeichnet, der mit dem baldigen Ende der Welt seinen Abschluss finden wird. Die Engelwerker sehen ihre Aufgabe darin, möglichst viele Menschen vom Teufel wegzuholen und in die Armee der Engel einzureihen. Zu diesem Zweck werden auch exorzistische Handlungen vorgenommen. Die Laien des Werkes betreut eine von Rom anerkannte eigene »Priestergemeinschaft vom hl. Kreuz«. Das Engelwerk arbeitet eng mit den »Dienern Jesu und Mariens« zusammen und hatte in Bischof Krenn seinen wichtigsten bischöflichen Fürsprecher. Benedikt XVI. ist der erste Papst, der 2006 einen dieser Priester - Pater Athanasius Schneider - zum Bischof ernannte, womit eine deutliche päpstliche Würdigung des Engelwerkes verbunden war - und das, obwohl die Priestergemeinschaft bereits 1993 durch einen schweren (mit Mord verbundenen) Fall sexuellen Missbrauchs auf der portugiesischen Insel Madeira [13] sowie die Warnung vieler Bischöfe, dass es sich dabei um eine fundamentalistisch- geheimbündlerische Sekte handele, in einem zweifelhaften Licht stand.
Ähnliche Zustände wie in den Knabenseminaren der Piusbruderschaft herrschen auch bei der im erzkatholischen Geist zu erziehenden weiblichen Jugend. Ich habe das Mädchengymnasium der Piusbruderschaft vor allem während der vielen Gottesdienste in deren Kirche im bergischen Schönenberg kennengelernt, das Haus selber nur anlässlich eines Vortrags im Jahr 2002.
Ob die Schülerinnen im Gottesdienst stehen, sitzen oder knien müssen, wurde damals von der Rektorin, deren strengen Augen nichts entging und die sich bei den Klerikern durch ihre Selbstgebrannten Schnäpse beliebt gemacht hatte, mit einem Knackfrosch geregelt. Auf sein Knacken hin nahmen Mädchen wie perfekt getrimmte Soldaten oder Häftlinge synchron genau jene Körperhaltung ein, die die Ehrwürdige Mutter Rektorin mit ihrem Frosch anordnete. So verwunderte es nicht, dass ein Bewohner des kleinen Dorfes, dem ich auf einer Wanderung mit meinem Freund nach der Messe dort begegnete, sagte: »Ach, Sie meinen den katholischen Mädchenknast.«
Auch eine Wagenburgmentalität, also die bewusste Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft, fiel mir im Schönenberger Internat auf: Dass die Mädchen keine Hosen, sondern knöchellange Röcke tragen müssen, versteht sich für die Verantwortlichen von selbst. »Hosen sind doch nichts für Frauen«, erklärte die Ehrwürdige Mutter Rektorin auf meine Frage, während sie mir ein Gläschen ihres Himbeerlikörs kredenzte.
Ähnlich verfuhr man damals mit dem männlichen Nachwuchs, bei dem Turnschuhe als US-amerikanische Unart galten. Auch dass es an diesen Schulen keinen Sexualkundeunterricht gibt, ist Teil des schulischen Beitrags zur Errichtung einer Parallelgesellschaft. Dass dahinter jedenfalls bei manchen Verantwortlichen eine Moralvorstellung steht, die Sexualität per se mit Sünde gleichsetzt, wurde mir klar, als mir vor einigen Jahren eine ältere Ärztin, die dem kämpferischen Maria-Goretti-Verein nahesteht, erklärte: »Reden über die Sexualität gehört in den Beichtstuhl, nicht in den Schulunterricht!« Und: »Sexualkunde ist eine Form des sexuellen Missbrauchs.«
Fernsehen, Mobiltelefone, Rock- und Popmusik sind ebenfalls absolute Tabus. Dies gilt sowohl für die Schulen als auch für die zahlreichen, von traditionalistischen Gruppen organisierten Jugendfreizeiten.
Bei Nichteinhaltung der Reglements zur Abschottung »von der Welt« drohen den Schülerinnen und Schülern teils harte Strafen: Schläge, Essensentzug oder Stehen während des Frühstücks. Im Jahr 2006 ging die Saarbrücker Schule der Piusbruderschaft durch die Medien, als bekannt wurde, dass dort Schüler von Lehrern und Schulleitung körperlich gezüchtigt worden waren. Dennoch wurden noch im Jahr 2007 allein die deutschen Schulen der Piusbruderschaft vom Staat mit 1,2 Millionen Euro aus Steuergeldern bezuschusst. In Frankreich steht derzeit eine vom »Institut du Bon Pasteur« - das aus der Piusbruderschaft hervorgegangen ist und sich päpstlicher Anerkennung erfreut - geleitete Schule kurz vor der Zwangsschließung durch den Staat. Journalisten des Senders France 2 hatten dort mit versteckter Kamera Schüler und Lehrkräfte gefilmt, die sich offen rechtsradikal, antisemitisch und rassistisch äußerten. Kontrollen, die das zuständige Ministerium daraufhin durchführte, ergaben, dass dieses Gedankengut auf den höchst mangelhaften, demagogischen Geschichtsunterricht an der Schule zurückzuführen sei.
Die Jugenderziehung der »Servi Jesu et Mariae« und der ihnen nahestehenden Katholischen Pfadfinderschaft Europas hat, obgleich die überwiegende Mehrheit der deutschen Bischöfe und selbst sehr konservative Universitätsprofessoren der Theologie ihr ablehnend gegenüberstehen, einen prominenten Befürworter. Zu der Zeit, als ich bei der SJM tätig war, lobte der damalige Kardinal Joseph Ratzinger die KPE ausdrücklich: »Die Jugendarbeit in der KPE ist im Ganzen durchaus positiv einzuschätzen und gibt vielen jungen Menschen eine solide Grundlage für ihren Weg im Leben.« [14] Und als die SJM ihr umstrittenes Internat auf Schloss Assen eröffnete, vermerkte Ratzinger in einem Brief vom 28. Februar 2003 beschwichtigend, »dass diese Ordensgemeinschaft ganz auf dem Boden der Lehre und Praxis der katholischen Kirche steht und diese auch in ihrem Internat und in der geplanten Schule weitergeben will, wie es jede katholische Schule tun soll.« [15]